Mitte Januar 2023 begann das neue Karate-Jahr in Grünwald mit einem großen Auftaktlehrgang. Iain Abernethy (7. Dan) aus dem Vereinigten Königreich reiste in das Grünwalder Dōjō. Er zeigte, dass die ersten fünf festgelegten Übungsformen, die Pinan / Heian Katas”, ein kohärentes Kampfsystem sind. Jeder Karateka lernt als erstes diese Serie, wenn er mit Karate anfängt. An zwei langen Trainingstagen demonstrierte Iain vor knapp neunzig Teilnehmern, dass diese Übungsformen weit mehr sind als „Anfänger-Katas” oder „Katas für Kinder”.
Egal welches Alter oder welcher Gurt, alle bemühten sich mit Begeisterung, die Angriffe und Verteidigungen zu verstehen. Der erste Lehrer dieser Katas, Anko Itosu (1831-1915), hatte diese Übungsserie entwickelt. Fünf Katas verknüpfte er so zu einem wirkungsvollen System der Selbstverteidigung. Anko Itosu hatte schon damals gesagt, dass diese fünf Übungsformen genügen würden, um sich in fast allen körperlichen Kampfsituation zu verteidigen. Daher nannte er die Katas, die Pinan Serie. Pinan bedeutet wie Heian, unter dessen Name sie im Shotokan Karate bekannt sind, „friedvoller Geist".
Bei allen unseren Partnerübungen ging es daher sehr „friedvoll” und „konzentriert” zu. Anfangs, nach jeder Angriffs-Abwehr-Übungen forderte uns Iain Abernethy auf, sich sofort von der Partner*in / Gegner*in zu distanzieren. Der schnelle Rückzug gehörte zu jeder friedvollen und gelungenen Selbstverteidigung. Diese Übung fühlte sich sehr ungewohnt an, da im normalen Training niemand nach zwei oder drei Anwendungen von seiner Partner*in davonläuft. In der Wirklichkeit gehört jedoch der schnelle Rückzug zu jeder friedvollen und gelungenen Selbstverteidigung. Daher übten wir auch das scheinbare „Weglaufen“ in unserem Lehrgang.
Danach öffnete Iain Abernethy eine Schatzkiste an zusätzlichen Techniken, die ebenfalls selten im Training auftauchen. Zu sehr verstecken sie sich in den Abläufen der Pinan / Heian Katas. Wir sind vor allem Schläge und Tritte gewohnt. Zu einem umfassenden Übungssystem gehören jedoch noch Würfe, Hebel, Haltegriffe, Würgegriffe und Sperrgriffe. Mindestens ein Beispiel jeder Art lehrte uns Iain an diesem Wochenende. Wir wunderten uns dagegen, wie genau diese wenig bekannten Techniken in diesen fünf „Katas” bereits aufgenommen waren.
Nebenbei lernten wir illustre Merkhilfen zum Bunkai kennen: „Die Arme des Partners sind die Kinder, deine Arme, die die Übung führen, benehmen sich wie Frau und Mann. Wenn seine Arme, also die Kinder, aus Deiner Kontrolle entkommen, dann gerätst Du in Schwierigkeiten.” Näher an der Praxis der Selbstverteidigung konnte keine Erklärung liegen. Oder: „Beschäftige Deinen Gegner immer vor Dir, stehe aber nicht frontal zu ihm. Achte auf deinen Winkel. Jeder Abschnitt einer Kata zeigt Dir dazu den Winkel, in dem du stehen musst.”
Der zweite Lehrgangstag am Sonntag diente der geballten Praxis. Wir verwendeten Schlagpolster (Hand-Makiwara), die wir als Handschuhe trugen, um einige Beispiele aus der Pinan / Heian Kata mit Kontakt einzuüben. Jeder Schlag sollte konzentriert und hart wie auf einen Boxsack auftreffen. Was es schwieriger machte: Das Hand-Makiwara konnte sich nach rechts und links nach oben und unten bewegen. Nach einer Einführung in den richtigen Umgang mit dem Schlagpolster legten wir los. „Wenn dabei ein Treffer auf das Hand-Makiwara so heftig ist, dass die Haarspitzen wackeln”, scherzte Iain, „dann, habt ihr alles richtig gemacht.” Leichter gesagt als getan, um mit voller Energie auf eine wackelige Fläche von der Größe eines Buches zu treffen.
Nach achteinhalb Stunden Lehrgang erhielt Iain Abernethy großen Applaus für seinen didaktisch und inhaltlich sehr gut strukturierten Lehrgang. In 2024 wird er im Januar erneut zu einem Lehrgang nach Grünwald kommen. Die Karateabteilung - und viele Karatekas, die aus ganz Deutschland und einigen Nachbarländern an diesem Wochenende teilnahmen - freuen sich schon heute auf dieses Ereignis.
Peter Henkel